Der heutige Blog führt in die Welt kurioser Fahrzeuge. Es riecht nach Zweitaktbenzin und Bremsenreiniger. Und er beschreibt ein Projekt informeller Bildung als Anschauungsbeispiel für Entwicklungsorientierte Bildung.

Fund eines Kultobjekts

Unser Lerngegenstand heute: Die Carnielli Motograziella, ein faltbares Moped, das ab Mitte der 1960er Jahre von Carnielli in Italien hergestellt wurde. Es war bis in die 1980er Jahre in Produktion. Ein Zweitakter mit einem Sachs Motor 502 – in der Gesamterscheinung doch ein quirrliges Ding, ein aus heutiger Sicht schräges Fahrzeug, wie so manche Fahrzeuge, die in der Mitte des letzten Jahrhunderts gebaut wurden.

Nun, einer meiner Söhne interessiert sich sehr für genau diese Art Fahrzeuge und recherchiert schon lange, um irgendwo eine Motograziella, notabene eines seiner Traumfahrzeuge, kaufen zu können. Die Dinger in gutem Zustand sind selten! So kam es, dass er im Juni 2025 tatsächlich fündig wurde. Und so haben wir uns aufgemacht, um mit dem kleinen Fiat 500 die ganz kleine Motograziella abzuholen, irgendwo im Dreieck Zürich-Thurgau-St. Gallen, da, wo sich auf grossen Gehöften, in irgendwelchen Scheunen, solche Schätze verbergen.

Abb.1: Werbeanzeige Motograziella von 1971 (cc scan by 237-aps) und Abholung Motograziella im Fiat 500 (Bilder Ch. Stalder).

Ein Zweitakter, der nicht läuft, wird zum Lernprojekt

Nun, wir sind hier ja nicht im Blog des Rollermobilclubs oder anderer einschlägiger Foren. Daher mach ich es kurz: Die Motograziella läuft nach der Ankunft zuhause wunderbar, also etwa 2 Minuten. Danach macht sie keinen Mucks mehr. Am anderen Tag ein neuer Startversuch, der irgendwann gelingt, dann wieder 2 Minuten frohe Fahrt. Dann stellt das Fahrzeug seinen Betrieb ein. Finito, da geht gar nichts mehr.

Das Ziel ist klar: Die Motograziella erlangt den alten Glanz und ist voll funktionstüchtig.

In meinen Jugendjahren habe ich mich nicht mit den Zweitaktern beschäftigt, es hat mich damals nicht interessiert, eher im Gegenteil. Ich verfüge unterdessen über ein mechanischen Grundverständnis aufgrund meiner Beschäftigung mit anderen Gefährten und viel Liebe zum Lernen, zur selbstständigen Reparatur dieses Gefährts aber reicht das vielleicht noch nicht. Glücklicherweise ist mein älterer Sohn seit einem Jahr eifriger Piaggio-Schrauber – das Wissen und die Kompetenz muss in das Motograziellea-Wiederbelebungs-Team, denke ich mir! Einige Verhandlungen später steht der Deal, das Team ist komplett.

Verschlissene Finger, grobes Fluchen und ein Licht am Horizont

Das Tolle an diesen Fahrzeugen und deren Technik ist, dass man mit dem Finger den einzelnen Bauteilen nachfahren kann und so ein Gefühl dafür bekommt, was, wie, wann funktioniert. Aus Erfahrung sind wir mal klassisch als Erstes an die Zündkerze und haben den Zündfunken geprüft – klappt! Also ab in Richtung Bing-Vergaser, komplett demontiert, gereinigt und wieder zusammengesetzt. Sollte passen. Neues Benzin eingefüllt und – läuft!

Die frohe Fahrt dauert fünfzehn Minuten, danach stellt das Gefährt wieder ab. Warum? Benzin ist vorhanden, Vergaser sauber. Zündfunke im heissen Zustand? Vielleicht ein Problem mit der Zündspule? Nein, doch nicht, wir haben einen Zündfunken. Also wieder von vorne.

So geht das eine Weile. Das Benzin in den wunden Händen brennt, der Fehler will sich auch Stunden später nicht finden lassen. Abends Recherchen in einschlägigen Foren, Anfragen in WhatsApp-Gruppen, Gespräche beim Zähneputzen. Schlaflose Nacht, immer wieder alles durchdenken: weshalb stellt das Ding plötzlich ab? -Ergebnislos. Gopf******! Und immer wieder der Gedanke, es müsste doch möglich sein, den Fehler zu finden.

Nach weiteren unbefriedigenden den Versuchen und mit ziemlich schlechter Laune plötzlich eine Entdeckung: Im Vergaser finden sich kleinste Partikel. Woher kommen die? Die finden sich bei genauerer Betrachtung auch im Benzinschlauch wieder. Siehe da, der Benzinfilter ist hinüber. Wir leeren den Tank und finden auch da dieselben Partikel im Benzin wieder. Der Tank muss also weg, die Benzinhähne werden abmontiert und es zeigt sich ein verheerendes Bild in deren Filter: alles brüchig, alles verdreckt. Neuer Mut flammt auf. Energie in der Werkstatt! Alles wird gereinigt, es werden Teile vermessen und bestellt, Alternativen für nicht bestellbare Teile überlegt und Ideen entworfen, verworfen und – es wird ein langer Abend!

Was das mit Entwicklungsorientierter Bildung zu tun hat

Ich habe die drei Ebenen dieses Lernprojektes – Wissen, Können, Entwicklung – hier kurz in bekannter Darstellung (Stalder & Arn 2023, Wampfler 2025) abgebildet und rasch einige Punkte, nicht abschliessend (!), notiert:

Abb. 2: Wissen-Können-Entwicklung in der «Lernaufgabe Motograziella»

Auf den Bereich der Entwicklung möchte ich kurz näher eingehen: Ich fokussiere hier auf einen besondren Gegenstand der Entwicklungsorientierten Bildung: Tugenden und Charakterstärken. Ich habe aus der Übersicht von Niemic (2019) deren sechs hier mal ausgesucht (Bild unten) und in der oberen Grafik stichwortartig beschrieben.

Abb.3: Ausgewählte, trainierte Charakterstärken in der «Lernaufgabe Motograziella»

Ich nehme aus den intensiven Stunden u.a. mit:

  • den Mut zu haben, die Dingen anzugehen und auszuprobieren, auch wenn ich nicht weiss, wie genau ich vorgehen soll.
  • keine Angst davor zu haben, Dinge kaputt zu machen: Wenn etwas schief geht, lässt sich sich das zumeist wieder beheben, oder ein Bauteil wird halt nachbestellt. Dafür weiss ich beim nächsten Mal haargenau, wie das Ding funktioniert und wie ich vorgehen muss.
  • Die Fehler beim Tun entwickeln sich als echte Lernchancen, insbesondere dann, wenn ich danach nochmals genau über das Vorgehen nachdenke und dann wieder in die Handlung komme. Und beim siebten Mal Vergaser zusammenschrauben geht es immer flotter – aus der Überforderung in den Flow (die Tage vergingen im Nu!).
  • Es gibt in der Community immer Menschen, die bereit sind, bei Fragen Hilfe zu leisten – einfach so. Heisst also: sich vernetzen und nachfragen, die beissen ja nicht! Und sich selbst auch wieder anderen zur Verfügung stellen.
  • Gelernt haben wir alle!
  • Wissen, Können und Entwicklung gehen zusammen, beeinflussen sich gegenseitig, sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich gewichtet, aber alle immer da!
  • Die Sinnfrage, ist eine entwicklungsorientierte Frage. Beispiel: Sinn für das Schöne und Gute (in diesem Fall der Erhalt eines Kulturguts, das ein Stück Geschichte erzählt) ist ein Lern- und Entwicklungsbooster sondergleichen, das «Ziel das zieht» wird gleich mitgeliefert!
  • Zum Wissen und teilweise zu den Kompetenzen, dazu gelingt man über Vermittlung durch andere, gleich welcher Art (mein Sohn erklärt mir die heimtückische Vergasernadel, ein Meachniker auf Youtube zeigt die Revision der Zündspule vor etc.). Die Entwicklung der Tugenden und Charakterstärken entwickeln sich in der Begegnung mit anderen (mein Sohn zeigt mir im Schwärmen für das Gefährt das Schöne und Gute, ein «bitteee, noch ein Versuch!» wirkt Wunder in Sachen Ausdauer des frustierten Neulings etc.).
  • Informelle Lernarrangements, das hier wäre so eines, stehen formeller Bildung in Sachen Lernen in nichts nach – eigentlich müsste man das noch viel geschickter verbinden!

Fahrtwind im Gesicht

Die Teile kommen mit der Briefpost, noch vor dem ersten Kaffee werden Benzinleitungen verlegt, Anschlüsse montiert, Filter eingesetzt. Neue Schwierigkeiten, unerwartete, tauchen auf. Das erfordert Improvisation und Kreativität. Und wieder rutscht der Schraubenzieher ab und landet in der Hand. Am Nachmittag dann fährt die Motograziella, frisch gereinigt durch den rhätischen Sommer. Einige Details müssen noch erledigt werden, vielleicht finden sich zwei fehlende Teile am Oldtimermarkt in Mannheim; man sagt, das sei der grösste Europas. Es geht also weiter…