Ein Gastbeitrag von Philippe Wampfler

Kürzlich habe ich einen Vortrag gehalten, in dem ich mich stark auf Inhalte von dieser Seite abgestützt habe. Grundsätzlich geht es mir darum, die Idee der Entwickungsorientierten Bildung zu verbreiten und sie insbesondere in Schulkontexten zu verankern, die im Gegensatz zur beruflichen Bildung weniger stark an Kompetenzen und Entwicklungen orientiert sind.

Eine Grundeinsicht liegt für mich darin, dass Entwicklung einen grösseren Rahmen setzt, der erklären kann, weshalb Schüler:innen schulisches Lernen zuweilen als langweilig und bedeutungslos empfinden. Fragen sie danach, weshalb sie ausgerechnet jetzt ausgerechnet diese Themen «durchnehmen» müssen, so drücken sie damit meist aus, dass der Wissenserwerb oder Kompetenzaufbau für sie nicht in die persönliche Entwicklung passe. Entwicklungsorientierung ist für mich deshalb der Paradigmenwechsel, den es braucht, wenn Schulen so gestaltet werden sollen, dass Lernerfahrungen zu den Bedürfnissen der Schüler:innen passen.

Die Verbindung der Dimensionen Wissen – Kompetenzen – Entwicklung zeigt, wo das Potential liegt. Wissen erhält erst in seiner Verbindung mit Kompetenzen eine Bedeutung, diese wiederum werden erst für Lernende sinnvoll, wenn sie in eine Entwicklung eingebunden sind.

Grafik: phwa

Das kann ein Beispiel gut zeigen: Wenn ich weiss, wie die Verwendung von Schrift einen Staat wie Ägypten politisch verändert, dann ist das zunächst isoliertes Wissen, das ich aber in einer Prüfung möglicherweise niederschreiben könnte. Sobald ich bemerke, dass ich so Schlüsse über die politische Bedeutung von Verwaltungen ziehen kann und so nicht nur historische, sondern auch aktuelle Prozesse verstehen kann, wird dieses Wissen im Lichte dieser Probleme für mich bedeutsam. Ich entwickle analytische Kompetenzen, mit denen ich Probleme lösen kann. Um darin aber einen persönlichen Sinn entdecken zu können, müsste ich das mit diesen Fertigkeiten etwas bewirken können, indem ich z.B. die Themen unterrichte oder in der Politik Anliegen umsetze oder Wahlen beeinflusse.

Konzeptionen wie Lernen durch Lehren berücksichtigen diese Erkenntnis, indem sie die Vermittlungstätigkeit als Schlüssel für Lernprozesse ansehen. Das funktioniert sehr oft, ist aber verkürzt gedacht, weil nicht für alle Lernenden das Lehren die Tätigkeit ist, die zu ihrer Entwicklung passt. Wer beispielsweise schüchtern ist, wird durch die Vorstellung, anderen etwas erklären zu müssen, so stark gestresst, dass damit kein Sinn verbunden ist, sondern die Bewältigung einer psychologischen Überforderung.

Sinnvoller ist es, über Aufgabenformate nachzudenken, in denen sich Wissen, Können und Entwicklung verschränken und gegenseitig beeinflussen. Achten Lehrpersonen hier auf bestimmte Merkmale, so ist eine Erweiterung der Wissens- und Kompetenz-Dimensionen hin zu Entwicklungs-Fragen einfacher möglich.

1. Sinnvolle Aufgaben sind mit Lernprodukten und Lerngesprächen verbunden.

Im Dreistrang-Konzept lässt sich erkennen, dass Verbindlichkeit und Leistungsfestellung nur in der Wissens-Dimension über Prüfungen, in der Kompetenz-Dimension hingegen über Lernprodukte und in der Entwicklungs-Dimension über Lerngespräche verläuft. Wer also Aufgaben stellt, die für Entwicklungsprozesse hilfreich sein sollten, muss Gespräche fest an die Formate knüpfen. Diese Gespräche dürfen nicht eine Nebensache sein, sondern ein wesentlicher Bestandteil, um Entwicklungen zu erkennen und Entwicklungspotential abzuschätzen.

2. Einladen, Fehler zu machen und sie zu reflektieren.

Ein einfacher Test für Aufgaben liegt darin, ob sie zu einer offenen Fehlerkultur einladen oder Verhaltensweisen begünstigen, mit denen Fehler vertuscht oder mit Druck vermieden werden. Fehler enthalten wertvolle Informationen über Entwicklungen, sie zeigen, wie Menschen arbeiten und denken. Wer Fehler macht und ihre Entstehung reflektiert, erkennt Muster und kann diese in Entwicklungen beeinflussen.

3. Im Wissen lernen.

Im Sinne dieser Überlegungen nachhaltige Aufgaben halten Wissen nicht zurück, sondern stellen es zur Verfügung. Wissen ist die Basis für Kompetenzerwerb und Entwicklung von Persönlichkeiten, deshalb muss es nicht erst freigelegt werden.

4. Zone der proximalen Entwicklung finden.

Der Begriff bezeichnet den Bereich zwischen dem, was ein Lernender bereits selbstständig kann, und dem, was er mit Unterstützung zu leisten vermag. Der Bereich wird nach Wygotski «durch selbständig gelöste Aufgaben bestimmt» (Denken und Sprechen, S. 331). Um sinnvolle Aufgaben zu finden, muss also erst diagnostiziert werden, welche Aufgaben Lernenden helfen, in der Zone der proximalen Entwicklung arbeiten zu können.

5. Soziale Interaktion ermöglichen.

Lernen und Entwicklung sind soziale Prozesse. Wenn Aufgaben Lernende isolieren, dann erschweren sie oft Entwicklungsverläufe, in denen Austausch und Abgleich von Selbst- und Fremdwahrnehmung entscheidend wäre. Abzuschätzen, welche Teilaufgaben man eigenständig, welche man in Zusammenarbeit und welche man von andere erledigen (lassen) kann, ist eine zentrale Kompetenz.
Bei Wygotski findet sich eine Metapher, mit der sich diese Gedanken verbinden lassen:

«Ähnlich wie ein Gärtner den Zustand seines Gartens nicht nur an den ausgereiften und Ernte tragenden Bäumen bestimmen kann, ohne die noch reifenden Bäume mit einzubeziehen, müssen für eine vollständige Bewertung des Entwicklungsstandes auch die noch unreifen Entwicklungsprozesse des Kindes berücksichtigt werden.» (zitiert nach Karnovska/Paulus 2025)

Aufgaben sind in diesem Bild die Rahmenbedingungen, die Gärtner:innen schaffen müssen, um die Entwicklungsprozesse zu ermöglichen und begünstigen.