Becks Vision

Unsere Welt verändert sich rasant – Bildungsinstitutionen stehen vor der Herausforderung, Schritt zu halten und auf diese vielschichtigen Transformationen zu reagieren. Ulrich Beck (2016) beschreibt diesen Wandel nicht nur als Veränderung, sondern als Metamorphose: eine grundlegende, tiefgreifende Verwandlung unserer Welt.

Nach Beck erleben wir derzeit den Übergang in eine neue Weltordnung, die er als «kosmopolitische Weltrisikogesellschaft» bezeichnet. Dieser Umbruch betrifft nicht nur politische Systeme, sondern unser gesamtes Denken und Handeln. Beck spricht von einer «kopernikanischen Wende 2.0» in den Sozialwissenschaften: Nationale Grenzen werden durchlässiger, Nationalstaaten müssen ihre Rollen neu definieren. Sie bewegen sich auf neuen Bahnen um die zentralen Fixsterne «Welt» und «Menschheit» (ebd., S. 19 f.). Gewissheiten, die lange als unerschütterlich galten, verblassen oder lösen sich auf.

Es bedarf einiger Offenheit, sich auf Becks Gedanken einzulassen. Seit 2016 fordert mich der Text von Beck immer wieder aufs Neue, weil die Metamorphose der Welt als plausible Antwort auf die Frage, in welcher Welt wir leben, «dem Leser die Bereitschaft abverlangt, die Metamorphose seines Weltbildes zu riskieren» (ebd., S. 17). Und diverse Kritiken an Becks Konzept von namhaften Soziologen machte die Verarbeitung nicht einfacher.

Aufgrund des frühen Todes 2015 hat Ulrich Becks Frau, die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim, den Essay mit Weggefährt:innen fertiggestellt und gibt in ihrer Vorbemerkung der Hoffnung Ausdruck, dass mit der vorliegenden Monographie die «Vision zu erkennen ist», mit der Ulrich Beck «den langen Weg zur Metamorphose begann» (ebd., S. 10): Ich denke, das gelingt!

Ein Gedankenexperiment

Die metamorphisierende Welt, in der wir leben und deren Folgen wir im Alltag erleben, hat Folgen – auch für die Bildung. So meine These, welche an Becks Gedanken zur Bildung von homo cosmopoliticus anknüpft. – Weitreichende Folgen. Mit dem Internet und der Künstlichen Intelligenz haben wir heute mit einem Mausklick Zugriff auf das Wissen der Welt. Beck argumentiert, dass dies das traditionelle Verhältnis von Lehrenden und Lernenden verändert – oder sogar auflöst (ebd., S. 245). Wenn Wissen überall verfügbar ist, was bleibt dann die Aufgabe von Lehrpersonen?

Die Antwort darauf erfordert ein radikales Umdenken: Die Metamorphose der Welt verlangt eine Metamorphose der Bildung. Neben introspektiver Selbstfindung wird eine offene, dialogische Auseinandersetzung mit «Welt» bedeutsam. Beck erweitert den traditionellen Bildungsbegriff, der auf das Innere verweist ergänzend mit einer Aussensicht, den er als Wechsel des Horizonts beschreibt, mit sich «im Aussen des erwerbbaren Wissens» bewegen (ebd., S. 246). Allerdings führt er diesen Gedanken im Kontext seines Essays nicht weiter aus.

Ich versuche hier, den Faden aufzunehmen und weiter zu spinnen. Lernen in der sich anhaltend verwandelnden Welt benötigt neben Reflexion (introspektiv, wir finden Welt in uns, aber eben vielleicht nicht ausreichend Welt) ein Denken über anderes und andere als Hinwendung zur Welt (extraspektiv, «sich in die Füsse anderer stellen», «die Welt mit anderen Augen sehen»). Ich unterscheide hier mit Bezug auf Arn & Zaugg reflektieren als ein Nachdenken über sich und denken als Nachdenken über anderes oder andere (vgl. Arn & Zaugg, 2022, S. 196).

Welt in sich zu finden ist ein Gedanke, welcher die Sozialwissenschaften (Fichte, Habermas, Luhmann) offenbar fasziniert . Das hiesse also: man könnte zuhause bleiben und sich in sich kehren, da findet man Welt; müsste nicht die Welt lernen, mit anderen Augen zu sehen, müsste das Aussen nicht begreifen (vgl. Beck 2016, S.246). Ein Irrtum. Die digitale Verfügbarkeit allen Wissen-Könnens ermöglich es, uns ausserhalb des erwerbbaren Wissens zu bewegen (s.o.), also über dieses Wissen hinauszugehen, wenigstens ein bisschen, und so die Welt anders sehen zu lernen. Suchbewegungen im Denken (ausserhalb) und Reflexionen (innerhalb) fügen sich so zusammen. Zur Veranschaulichung in einer Gleichung formuliert hiesse das:

Reflexive Kompetenz = Selbstreflexion x Weltwahrnehmung ; R = S x W 

Das Multiplikationszeichen soll darauf hindeuten, dass aus dem Zusammenspiel beider Aspekte ein produktiver Effekt entsteht, der mehr ist als die blosse Summe beider Komponenten. Man kann sich das so vorstellen, dass Selbstreflexion immer wieder durch Weltwahrnehmung herausgefordert und erweitert wird – und umgekehrt. Eine ausschliesslich nach innen gerichtete Reflexion ohne Aussenbezug würde schnell zur Selbstbespiegelung verkommen, während reine Weltwahrnehmung ganz ohne Innenschau mir kaum möglich scheint. Diese Verschleifung von «Innen» und «Aussen» führt zu einer reflexiven Kompetenz (R), die uns erlaubt, aktiv am laufenden Weltgeschehen teilzunehmen und es mitzugestalten.

Mich erinnert diese Beschäftigung an den Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget, der im Rahmen seiner biologischen Forschung uns der Auseinandersetzung mit Lernen, Entwicklung und Reifung gerne einmal versucht hat, Zusammenhänge als Gleichungen darzustellen. Sein Konzept der Äquilibration (Piaget, 1975) liesse sich so beschreiben:

Äquilibration (zu einem bestimmten Zeitpunkt) = Akkomodation x Assimilation ; Et= As x Ac

Setzt man jetzt Piagets Idee der Äquilibration zur Gleichung R = S x W, könnte man ergänzend sagen: Eine echte (kognitive und auch soziale) Entwicklung dieser reflexiven Kompetenz tritt vor allem dann ein, wenn eben «Innen» und »Aussen» nicht nur nebeneinander stehen, sondern auch ständig in ein balancierendes (Lern-)Verhältnis treten, ähnlich dem Prozess von Assimilation und Akkommodation. So wie Piagets Äquilibration das dynamische Gleichgewicht aus As und Ac bildet (wenn sie gelingt), ist reflexive Kompetenz das dynamische Produkt aus S und W – vernetzt mit einem ständigen Austarieren (Äquilibration).

Eine erweiterte Formel

Wenn wir beides verbinden, könnten wir eine – zugegebenermassen stark vereinfachte, aber veranschaulichende – Meta-Formel entwerfen:

R = (S×W)×Et ; mit Et = As×Ac

In Worten: Reflexive Kompetenz entsteht durch die Multiplikation von Selbstreflexion und Weltwahrnehmung, angereichert (oder lebendig gehalten) durch den Prozess des Ausbalancierens von Assimilation und Akkommodation. Genauer:

  1. S × W beschreibt das Zusammenspiel von Selbstreflexion und Weltwahrnehmung, ohne das es keine reflexive Kompetenz im Sinne einer Öffnung nach innen und aussen gäbe.
  2. Et = As × Ac (im Geiste Piagets) verdeutlicht, dass wir dieses Zusammenspiel als lebendigen Lernprozess begreifen müssen, in dem Innen-Perspektiven (Assimilation: neue Erfahrungen einordnen) und Aussen-Anpassungen (Akkommodation: vorhandene Strukturen anpassen) in Balance kommen.
  3. R = (S × W) × Et verdeutlicht schliesslich, dass erst durch diese andauernde Balance – von sich selbst in Frage stellen und zugleich offen die «Welt» (im weitesten Sinn) aufzunehmen – eine dynamische Lern- und Veränderungsfähigkeit (Entwicklung) entsteht.

Was heisst das für die Bildung in der Weltrisikogesellschaft?

Die derzeit oft betonte Kompetenzorientierung ist ein guter Ausgangspunkt, aber sie reicht nicht aus. In einer Welt, die von Unsicherheit und Wandel geprägt ist, braucht es mehr: Fähigkeiten, die nicht nur individuelles Handeln ermöglichen, sondern auch kollektive Verantwortung fördern. Es geht um die Kompetenz zur Mitgestaltung einer kosmopolitischen Welt – sowohl im Innen als auch im Aussen. Bildung sollte uns nicht nur auf ein Leben in dieser Welt vorbereiten, sondern uns dazu befähigen, die Metamorphose der Welt aktiv mitzugestalten und Verwandlungen «auszuhalten».

Wenn man Ulrich Becks Konzept der Metamorphose der Welt auf Bildung überträgt, ergeben sich weitreichende Konsequenzen, die die Strukturen, Inhalte und Ziele von Bildung verändern könnten. Hier einige Gedanken dazu, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Globale Verantwortung als Bildungsziel: In einer kosmopolitischen Welt, wie Beck sie beschreibt, müsste Bildung darauf abzielen, Weltbürger hervorzubringen. Dies würde bedeuten, dass Schüler:innen und Student:innen nicht nur lokal, sondern global denken lernen: ökologische Verantwortung, soziale Gerechtigkeit und kulturelle Sensibilität wären unverzichtbare Bestandteile eines Curriculums.
  • Bildung für Unsicherheiten und Komplexität: Die Metamorphose der Welt stellt Gewissheiten infrage und erfordert von den Lernenden die Fähigkeit, in unvorhersehbaren, dynamischen Kontexten zu denken und zu handeln. Bildung müsste stärker auf Empathie, Resilienz, Problemlösungskompetenz, soziale Intelligenz, Kreativität und den Umgang mit Ambiguität und ebenso mit Überforderung abzielen, um den Anforderungen dieser Welt gerecht zu werden und sich (schnell) auf Unbekanntes einstellen zu können.
  • Aufbrechen nationaler Bildungssysteme: Nationale Bildungssysteme, die stark auf lokale Arbeitsmärkte und kulturelle Traditionen zugeschnitten sind, könnten zunehmend obsolet werden. Stattdessen könnten transnationale, kosmopolitische Bildungsnetzwerke entstehen, die globale Standards setzen und den transkulturellen Austausch fördern.
  • Interdisziplinarität und Systemdenken: Die Herausforderungen der Metamorphose – wie Klimawandel, Digitalisierung und globale Ungleichheit – erfordern ein Denken, das disziplinäre Grenzen überschreitet. Bildung müsste stärker auf Interdisziplinarität und das Verständnis komplexer Systeme ausgerichtet sein.
  • Neudefinition von Wissen und Lernen: In einer Welt, in der traditionelle Wahrheiten brüchig werden, müsste Bildung kritisches Denken und die Fähigkeit, Wissen zu hinterfragen, in den Mittelpunkt stellen. Gleichzeitig könnte die Rolle der Lehrpersonen als «Wissensvermittler:innen» in den Hintergrund treten, zugunsten von Lernbegleiter:innen, die den Prozess der Wissensaneignung, des Kompetenzaufbaus und der Persönlichkeitsentwicklung begleiten.
  • Digitale und kosmopolitische Lernräume: Die Digitalisierung, ein wesentlicher Bestandteil der Metamorphose, könnte Bildung vollständig transformieren. Lernende könnten in virtuellen, global vernetzten Räumen gemeinsam lernen, unabhängig von nationalen oder geografischen Grenzen.
  • Neue Werte und normative Horizonte: Beck spricht von der Herausbildung neuer kosmopolitischer Normen. Bildung müsste diese Werte – Solidarität, Empathie und kollektive Verantwortung – aktiv fördern, um eine Basis für das Zusammenleben in der kosmopolitischen Welt zu schaffen.

Und jetzt?

Das alles ist hypothetisch und keineswegs zu Ende gedacht. Nur: Metamorphose der Welt lädt zu Metamorphose der Bildung ein. Das lässt sich zusammen denken. Entwicklungsorientierte Bildung könnte als Paradigma die Antwort sein, um in der fortschreitenden Verwandlung der Welt Bildung anders, passender zu gestalten. Oder zumindest könnte Entwicklungsorientierte Bildung dabei helfen, eine neues Paradigma vorzubereiten, welches die Metamorphose begleiten könnte.

Was denken Sie dazu?

Das Buch von Ulrich Beck «Die Metamorphose der Welt» ist 2016 im Suhrkamp Verlag (Berlin) erschienen (ISBN 978-3-518-42563-3).

Cover Ulrich Beck: Die Metamorphose der Welt ISBN 978-3-518-42563-3

Quellen

Arn, C., & Zaugg-Martinez, Y. (2022). Reflexion, die Reflexion ist, befördert Entwicklung. In W. Burk & C. Stalder (Hrsg.), Entwicklungsorientierte Bildung – ein Paradigmenwechsel. Beltz-Juventa.

Piaget, J. (1975). L’équilibration des structures cognitives: Problème central du développement. Presses Universitaires de France.