Ein Beitrag von Dani Wintsch
In einem spannenden Artikel im Journal 21 mit dem Titel «Im Dunkeln tappen – über die Tugend des Nichtwissens» gab Eduard Kaeser folgendes zu bedenken: «Wissen ist ohne Zweifel ein Produktionsfaktor, aber Erkenntnissuche setzt Nichtwissen voraus als eine Tugend[1], ein Ethos, als eigentlicher Beweger der Forschung! Neugier speist sich von Nichtwissen. Daher wäre es angezeigt. statt vom „Rohstoff Wissen“ vom Treibstoff Nichtwissen zu reden. Zumal Hochschulen sollten den intellektuellen Mut an den Tag legen, dieses Ethos neben aller Exzellenzhuberei öffentlich hochzuhalten.»
Spinnen wir diesen Gedanken etwas weiter. Er leitet uns zu bedenkenswerten Einsichten der Möglichkeiten und der Voraussetzungen, um entwicklungsorientierte Bildungsprozesse in die Wege zu leiten.
Entwicklung setzt immer auch – dies meine Grundannahme – Kompetenzen voraus. Kompetenz wiederum spannt sich auf zwischen den drei Eckpunkten Wissen, Können und Wollen. Was könnte es bedeuten, Kaesers Gedanken über die Tugend des Nichtwissens auf alle drei Aspekte zu übertragen?
- Nicht-Wissen bedeutet, dass etwas fehlt. Empirische Daten auf der einen Seite, ein Modell, welches Verstehen ermöglicht, auf der anderen Seite. Was braucht es, um dieses schwarze Loch zu füllen? Nennen möchte ich Punkte wie: die Neugier, sich auf Unbekanntes einzulassen und sich mit Befremdlichem auseinanderzusetzen; der Wille zu entdecken und sich mit Leuten zu unterhalten, die anders denken als man selber.
- Nicht-Können verleitet dazu, sich auf ausgewiesene Expertinnen und Spezialisten zu verlassen: die beherrschen das. Was braucht es hier, um selbst in Bewegung zu kommen? Der Wunsch zu lernen, die Lust zu üben und auszuprobieren sowie die Stärke, sich nicht entmutigen zu lassen, wenn etwas klemmt oder nicht auf Anhieb funktioniert. Das sind mögliche Triebfedern.
- Wollen schliesslich, heisst Haltung zeigen und sich der Standortgebundenheit des eigenen Denkens und Handelns (Karl Mannheim) bewusst sein. Wie kann ich als Lehrperson dem Nicht-Wollen auf Seiten der Lernenden begegnen? Wie kann ich motivieren, sich einzulassen und auszuprobieren? Ich muss „gluschtig“ machen auf das, was es zu entdecken gilt. Dabei helfen sowohl spannende Geschichten von eigenen Erfahrungen und Erlebnissen als auch fachlich solide und emotional wertschätzende Unterstützung beim Eintritt in und der Erkundung neuer Welten.[2]
Das «Nichts» – so schliesse ich mit einem Augenzwinkern – ist halt schon sehr wenig. Wenn es aber beiden Seiten, die an Bildungsprozessen beteiligt sind, gelingt, dieses schwarze Loch, dieses Unvermögen, dieses Tappen im Dunkeln auszuhalten und zu einem Ausgangspunkt umzudeuten, können sich Dinge in Bewegung setzen. Das „Nichts“ wird zu einem Hingucker, einem Übungsfeld und damit zu einer Chance des ersten Schritts. Ein erster Schritt auf einen Entwicklungsweg, der zu Fortschritt beitragen kann. Fortschritt, wenn er unter die Füsse genommen wird – auch ohne genau zu wissen, wohin einen der Weg führt.[3] Entscheidend ist: Auf den Weg gehen, ist anstrengend. Man muss ermutigt werden, man muss sich trauen, erste Schritte selber zu gehen.
[1] Hier lässt sich an die Gedanken von Christian Stalder zu Tugenden anschliessen (Stalder Ch. (2022). Alte Tugenden – neue Schulkultur. Entwicklungsorientierung im Brennglas des Sozialen. In: Burk & Stalder, Entwicklungsorientierte Bildung – ein Paradigmenwechsel. Beltz, S. 258-270)
[2] vgl. Wintsch, Dani (2022). Raus in die Welt – unterwegs zum Ich. Wie eine forschende Haltung Entwicklungs- und Bildungsprozesse ermöglicht. In: Burk & Stalder, Entwicklungsorientierte Bildung – ein Paradigmenwechsel. Beltz, S. 74-89)
[3] vgl. Jaeggi, Rahel. Was ist Fortschritt? Soziopolis- Gesellschaft beobachten. (https://www.soziopolis.de/was-ist-fortschritt.html)
Leave A Comment