Der fünfte Punkt der Liste der 13 Charakteristika! Entwicklungsorientierte Bildung ist, …

… wenn Bildungsprozesse emergent sind.

Emergenz heisst »Auftauchen«: Wie aus dem Nichts erscheint etwas, das unsichtbar sich schon vorbereitet hat. Emergenz meint auch: Das «aufgetauchte», »erschienene« Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das erleben wir in den Naturwissenschaften: Leben ist mehr als Chemie – und doch baut es auf Chemie auf. Emergenz ist ein Stufenübergang: Plötzlich erleben wir etwas als verwandelt. Das ist für Bildung von besonderer Bedeutung. Wir machen Bildung handhabbar, in dem wir sie in Fächer, Module, Kurse, Themen aufteilen, und doch ist die Pointe der Bildung das was geschieht, wenn sich diese Elemente verbinden. Dann ist Bildung mehr als die Summe seiner Teile.

Kurz erklärt:

  • Emergent meint, dass sich »Gelerntes« aus ganz verschiedenen Feldern zu einem »Kippeffekt« zusammenfügt.
  • Entwicklung verläuft damit also eher stufig als linear.

Wir erleben bei uns und anderen Momente, in denen sich Gelerntes, Geübtes, Erfahrenes aus unterschiedlichen Kontexten und Feldern plötzlich fügen. Ein umfassender Aha-Effekt hat jemanden als gesamten Menschen einen substanziellen Schritt weitergebracht. Bei Kindern und Jugendlichen kennen wir das als Aussenblick gut: Sehen wir sie für eine längere Zeit nicht und dann wieder, stellen wir fest: »Aha, da ist etwas passiert!« Wir sehen einerseits durchaus noch dieselbe Person, und doch nicht mehr dieselbe.

Für die Bildungsarbeit bedeutet das:

Vor allem einen neuen Blick auf Curricula und Lehrpläne: Das Zusammenspiel der Teile wird gestärkt. Je mehr die verschiedenen Lehrenden miteinander in Kontakt sind, desto verbundener werden die Lernenden die Fächer, Kurse, Module, Projekte erleben. Die Entwicklung integraler Fähigkeiten wird wahrscheinlicher: Fortschritte in «kritischem Denken» oder «Kreativität» oder «Tugenden» nähren sich aus verschiedenen Quellen. Damit ist letztlich auch auf Soziales Lernen (auch und gerade unter den Lehrenden!) und Persönlichkeitsbildung (auch hier ist diese Entwicklung auch bei den Lehrenden selbst wichtig, vorbild- und modellhaft für die Lernenden, s. Punkt 3) verwiesen, die Lehrpersonen begleiten und beurteilen können.

Forschungshintergrund:

Loevinger (Binder, 2019, S. 41) hat in ihren empirischen Forschungen gezeigt, dass Zunahme in der Komplexität des Denkens, Breite der Möglichkeiten im Umgang mit den eigenen Emotionen, Entwicklungen im Bewusstseinsfokus sowie Wachstum des Repertoires im Umgang mit anderen Menschen jeweils nur simultan wesentlich vorankommen. Zwar kann einer dieser Bereiche etwas vorangehen, doch nie weit, sondern jeder Bereich wartet quasi mit weiterer Entwicklung ab, bis die anderen Bereiche nachziehen oder sogar ihrerseits vorangehen können.

PS: Die Grundlagen zu diesem Blogbeitrag stehen im Buch «Entwicklungsorientierte Bildung – ein Paradigmenwechsel». Der brandneue Text Was Entwicklungsorientierte Bildung ist erläutert 13 Charakteristika dieses Paradigmas.