Das Dreistrangkonzept einer differenzierten Lernumgebung nimmt das Konzept von Berger & Pfiffner (2018) auf, das wir in diesem Beitrag bereits vorgestellt haben – und entwickelt es weiter. In diesem Blogbeitrag stellen wir das offene Konzept praktisch vor und bleiben mal im Kontext einer Berufsfachschule.

Ausgangspunkt: Konkrete Situationen

In der Auseinandersetzung mit Entwicklungsorientierter Bildung, ja, mit Lernen überhaupt, wird bald einmal klar: Lernende kommen mit situationsbezogenen Erfahrungen in den Unterricht; Einzelerfahrungen, die Lernende in der Berufswelt sammeln und die sie prägen. Das berufliche Lernen geht also von Situationen aus, die bewältigt werden müssen: Die EU-Palette muss ins richtige Hochlagergestell gehievt werden, der Schmelzpunkt von Kunstoff A muss bei der Qualitätsprüfung korrekt ermittelt werden, bei Frau Müller steht ein Transfer vom Bett in den Rollstuhl an.

Ein Lerngespräch

Frau Giacometti, eine Lernende im Betreuungsbereich, lernt die «Asisstenzformen nach Theunissen» in der Berufsfachschule kennen. Sie hält die Lektüre dazu für kompliziert. «Assistenzformen» und «Empowerment», mit ihrer Lebenswelt hat das, so macht es den Anschein, nichts zu tun. Sie beschreibt in der Lernberatung, fast so, als möchte sie den Lehrer, der die Praxis nur noch von früher kennt, überzeugen, wie das im Betrieb so läuft. Ich bitte sie, mir einen Tagesablauf zu beschreiben. Ein Gesprächsausschnitt:

Lernende: «Also, am Morgen da komme ich auf die Wohngruppe. So um sieben. Dann klopfe ich an der Zimmertüre meines Klienten und wecke ihn. Ich bitte ihn aufzustehen, die Morgentoilette zu erledigen und sich dann anzuziehen. Das macht er dann auch immer.»

Lehrer: «Kann der Klient die Kleider selber anziehen?»

Lernende: «Ja. Also manchmal braucht er Hilfe. Aber er kann das eigentlich alleine.»

Lehrer: «Wählt er die Kleider aus oder tun Sie das?»

Lernende: «Das machen wir vom Betreuungspersonen am Vorabend.»

Lehrer: «Weshalb machen Sie das?»

Lernende: «Wie meinen Sie das?»

Lehrer: «Weshalb wählen Sie die Kleider aus und legen Sie die Kleider bereit? Kann er das nicht? Oder will er das nicht? Oder was ist der Grund dafür, dass Sie oder andere Betreuungspersonen das tun?»

Lernende: «Das machen wir immer so. Also, ich weiss nicht – das ist einfach so.»

Lehrer: «Könnten Sie sich vorstellen, dass ihr Klient sich die Kleider selbst zurecht legt? Also Hosen, T-Shirts, Socken usw.»

Lernende: «Boah, weiss nicht. – Ja, möglicherweise. Ich weiss es nicht.»

[…]

Was in diesem Unterricht anschliessend geschieht

Die Lernende:

  • reflektiert ihre Praxis, also situationsbezogene Erfahrungen.
  • entwickelt, ausgehend von Grundlagentexten, der Assistenzformen, Gesprächen mit Lernenden und Lehrenden, Modellen, Erfahrungsberichten etc. verschiedene Ideen, wie in dieser Situation auch noch vorgegangen werden könnte, um mehr Selbstbestimmung des Klienten zu ermöglichen.
  • arbeitet daraufhin einzelne Ideenskizzen weiter aus, holt Feedback zu ihrem geplanten Vorgehen bei Mitlernenden, der Berufsbildnerin und der Lehrperson ein und plant eine konkrete Umsetzung im Betrieb: Der Klient kann ab sofort mit ihr die Kleider auswählen.
  • handelt also in einer ganz bestimmten Weise. Die in der Situation (die wohl kaum exakt der Planung entsprochen haben dürfte) gemachten Erfahrungen (damit auch Improvisationen) bringt sie zurück in den Unterricht, reflektiert wieder, bringt die neuen Erfahrungen wieder in Bezug zu Fachtexten, denkt über Alternativen nach etc.
  • dokumentiert den Prozess.

Was da auch noch geschieht

Die Lernende:

  • erarbeitet die Situation, in dem sie Erfahrungen macht, reflektiert, einordnet, sich damit beschäftigt, Inputs, aufnimmt, Texte liest.
  • entwickelt eine alternative Vorgehensweise, handelt danach (und weicht auch davon ab!) und setzt sich erneut mit Erfahrungen auseinander.
  • entwickelt sich dabei selbst: So lässt sie sich auf neue Deutungen ein, kreiert neues Handeln, setzt sich dazu ins Verhältnis (als Mensch, als Fachperson etc.), erweitert ihr Handlungsspektrum und bewegt sich insgesamt hin in Richtung «grösstmögliche Selbstbestimmung des Klienten» durch passende Assistenzformen.

Sie kann nach zehn Wochen intensiver Beschäftigung mit dieser Situation, in der sie Wissen und Kompetenzen erlangt hat und sich als Mensch entwickelt hat, nicht mehr hinter das zurück, wo sie nun steht!

Nie in dieser «Lernphase» wurde ihr erst Grundlagenwissen vermittelt, um dann etwas umzusetzen oder mit der Situation zurechtzukommen. Erarbeitung, Handlung und Entwicklung fliessen ineinander über, verflechten sich zu einem Lern- und Entwicklungsstrang, in dem mal das eine, mal das andere in den Fokus rückt, gerade jetzt wichtig wird. Das bisherige Denken der Lernenden (also ihre ganze Erfahrung als Mensch) fliesst in den Prozess ebenso ein, wie etwa Theorien oder Feedbacks von Peers. Erlangen von neuem Wissen (z.B. über Assistenzformen) ist ebenso beobachtbar, wie Aufbau von Handlungskompetenz in Planung oder Durchführung von Aktivitäten. Die Lernende entwickelt sich als Person, weil Sie z.B den Mut aufbringen muss, vom Status Quo im Betrieb («Wir machen das immer so») abzuweichen, mit einer ungewissen Situation zurecht zu kommen und ein neues Vorgehen zu kreieren. Und Sie könnte sich weiterentwickeln, wenn Sie daraus Schlüsse für eine von «Partizipation» oder «Empowerment» geprägte Betreuungspraxis zieht und das wiederum ihr berufliches Handeln prägt.

Zeitgleich laufen in der Klasse auch ganz andere Entwicklungsprozesses auf ganz unterschiedlichem Niveau. Wissen, Können und Entwicklung als Mensch werden gleichzeitig gefördert.

Mehr Infos: «Was Entwicklungsorientierte Bildung ist.»