«Bildung heisst Entwicklung und Befreiung», schreibt Ueli Mäder, der namhafte Schweizer Soziologe und Erich Fromm Preisträger 2022 im Buch «Entwicklungsorientierte Bildung». Die Anfrage für seinen Beitrag schrieb ich spontan an einem Novemberabend im Jahr 2021. Wenige Stunden später kam die Zusage, am 24. Dezember dann der fertige Artikel. Wer Mäder kennt, weiss um seine bescheidene und kollegiale, einfache Art. Und lernt dies bald einmal sehr zu schätzen. Sein Artikel kuckt gleich zu Beginn durch ein anderes Brennglas auf die Welt und erkennt Bildung rasch als etwas, das einseitige Abhängigkeiten aufbricht. Als etwas, das den materiellen Ausgleich fördert und soziale Kompetenzen stärkt.

Streifzug durch Basel

Mäder flaniert, so könnt man meinen, dem Basler Rhein entlang. Erzählt von Annemarie Burckhardt-Wackernagel (1930-2012) und ihrem Mann Lucius Burckhardt (1925-2003), beide aus begüterten Verhältnissen, dem Basler ›Daig‹. Annemarie schildert die soziale Ungleichheit, die sie als Kind im Seevogelschulhaus wahrnahm und davon, wie sie sich schämte für ihr privilegiertes Aufwachsen. Als wär man mittendrin. Für einmal erzählt auch Mäder vom eigenen Aufwachsen und den holprigen Bildungswegen, von der Schule, in die er nicht recht passen wollte!

Man kann es auch anders sehen

Mäder ist einer jener Soziologen, der das Individuum nicht aus dem Auge verliert. Und der fragt, was der Mensch aus dem macht, was die Gesellschaft aus ihm macht. Auch das ein Zugang zu Entwicklungsorientierung! Mäders Studien sind anders, weil er den Menschen in seinen Studien begegnet. Allen Menschen: den Superreichen, den Konzernlenkern, den Armen, den Radikalen, den Verdingkindern.

Und so schreibt und argumentiert Mäder, ordnet Entwicklungen der Bildung in gesellschaftliche Entwicklungen ein. Mit Beck, Bourdieu. Und dem Bundesrat. Differenziert und schnörkellos. Und gibt am Ende seiner Ausführungen als intellektueller Handwerker dann doch einem einfachen Kerl das Wort.

Als Heimzögling träumte René Reinhard (1939-2013) davon, Fotograph zu werden. Aber seine Heimatgemeinde verweigerte eine Kostengutsprache. So kam für ihn nur eine interne Ausbildung als Schneider infrage. Nach der Entlassung mochte er diesen Beruf nicht ausführen. Er jobbte. Und dockte auch bei einem Milchmann an. Nach einem Monat durfte er bei den Kundinnen und Kunden einkassieren. Das freute und überforderte ihn. Er gönnte sich mit dem Geld ein verlängertes Wochenende und verbrachte die folgenden zwölf Jahre vorwiegend hinter Gitter. »Man gibt Dir nichts, was Dir gut tun könnte«. So beschrieb René seine Strafzeit. 1972 kam er in unsere Wohngemeinschaft. Da gab es Leute, die ihm zuhörten. Er begann, eigene T-Shirts zu kreieren und, durch eine Gesprächstherapie angeregt, Geschichten zu schreiben, die er auf der Strasse verkaufte. Mit den Einkünften lebte er zwar stets unter dem Existenzminimum, aber er bildete sich permanent weiter, las Literatur und philosophische Bücher. Und er liebte es, mit allen möglichen Leuten zu diskutieren.

Er verdanke ihm und ihren Begegnungen viel, schreibt Ueli. «Bildung und Entwicklung bedeutet ebenfalls: Wir können von sozial Benachteiligten viel lernen. ›Man kann es auch anders sehen‹, dieser Satz bleibt mir von René ganz besonders in Erinnerung.»

Bildung – Entwicklung – Befreiung?

Bildung, die Entwicklung und Befreiung der Menschen im Sinn hat, steht in einer grund-humanistischen Tradition. Ist alte und neue Bildung. Menschenkenntnis und Systemkenntnis lassen sich, das lernen wir bei Mäder, vereinen. Gemeinsinn und Gemeinwesen einerseits, Individualität andererseits. «Kommunitäre Individualität», nannte das Mäder einmal – glaube ich mich zu erinnern. Die sozialen Ungleichheiten, sie verschärfen sich seit Jahrzehnten. Das ist im Bildungsalltag spürbar: Einige meiner Lernenden an einer Berufsfachschule wissen oder ahnen, dass ihre Berufsbildung (die «Strategie von unten»), ihr Zugang, die Integrationschance zum Arbeitsmarkt ist. Nur – Gesellschaft tut gut daran, in den sozialen Ausgleich und damit – alte Rede! – in die Bildung zu investieren. Menschen brauchen Aussichten! Brauchen, anders formuliert, Entwicklungsmöglichkeiten. Also, Zugänge und Bildungsgelegenheiten schaffen, weit weg von Konformismus. Mäder erinnert an die toskanische Scuola die Barbiana und daran, wie Pater Lorenzo Milani seine Schule umkrempelte, um mit seinen Schülern arbeiten zu können. Längstens war das entwicklungsorientiert! Bildung auf die Menschen und die Verhältnisse ausrichten, das lässt sich als hilfreich aus Mäders Zeilen lesen. Wenn man will.

«Du-sollst»-Erwartungen wirken oft blockierend. Hilfreicher ist eine «Du-kannst-etwas»-Haltung. Sie nimmt konkrete Fähigkeiten wahr und knüpft an vorhandene Interessen an. Die Kompetenzmotivation hilft, eigene Ressourcen zu entfalten. Sie mindert einseitige Abhängigkeiten und fördert eine Entwicklung im Sinne der Befreiung – für alle.

Da kommt Mäder in feinen Linien schon in die Nähe dessen, was wir seit einiger Zeit an der HfaB weiterdenken. Man kann das aber auch anders sehen!

Aufrichtigen Dank dem wichtigen und angenehmen Weggefährten für diese Büez!