Im September gehen manche Bündner auf die Jagd. Die Weinbauern im Dorf waschen die Kübel und denken übers Wimmeln nach. Letzte späte Tage auf der Alp. Die Mosti öffnet ihre Türen. Das Licht wird gelber.

Prüfungsernst. Und Schoggi auf dem Tisch.

Für mich heisst das alljährlich, an der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik Luzern die Diplomprüfungsgespräche mit «meinen» Diplomandinnen zu führen: Nach zwölf Monaten Diplomarbeitsbegleitung endet der gemeinsame Weg. Die Rollen ändern sich. In den 60 Minuten der mündlichen Prüfungen zeigen sich Ergebnisse aus intensiven Lernprozessen. Dieser feierliche Moment – durchsetzt von Nervosität und Anspannung, ritualisiert der Choreografie folgend, geprägt von der Präsentation der angehenden Sozialpädagog:innen, sich erst entwickelnd im Fachgespräch mit Expert:innen aus der Praxis – der hat was; ist Endpunkt und Startpunkt zugleich. Wir verlassen den Raum immer anders, als wir ihn betreten haben. Die Schokolade auf dem Tisch, rührt kaum je einer an.

Diese Zeilen entstehen just unter dem Eindruck der Prüfungsgespräche der letzten beiden Wochen. Die Nervosität klingt langsam ab. Ein Finale nach einem langen, gemeinsamen Lernweg. Über 6o Stunden DA-Begleitgespräche mit fünf unterschiedlichen jungen Menschen; nach Irrungen, Verwirrungen, Aha’s; nach Quellensuche, Zitierrichtlinien, Fragen. Und Reflexion in Loopschleifen.

Ein wilder Ritt. Und ein grosses Danke.

An euch, Nadine, Sarah, Nezir, Haris und Oliver, wende ich mich. Das war, meine Lieben, ein wilder Ritt im iterativen Helix-Turm der Studiererei (siehe Bildteil links). Auf ihn folgt die Zeit, um Abschied zu nehmen (Bildteil oben). Was bleibt, sind einige Erkenntnisse, die auch euren Dozenten im lauen Nebenamt nicht kalt lassen. Fundstücke, fachliche Perlen, die zu teilen sich anschickt:

  • «Weshalb muss ich hier sein?», fragt das platzierte Kind. Und der Sozialpädagoge ist gefordert, via Partizipation, Feingefühl, Verlässlichkeit und mit viel Zeit im Gepäck eine tragfähige Beziehung zu gestalten. Im besten Falle gelingt das, Garantien – gar für Integrität – gibt es keine. Das Momentum der Platzierung als Schnittstelle, Nahtstelle, Bruchstelle im Einzelfall verstehen und gestalten lernen. Was für eine Aufgabe!
  • Soziale Ungleichheit prägt Gesellschaften, die Schaffung sozialer Gerechtigkeit bleibt ein Ziel Sozialer Arbeit. Diversitätssensibel sozialpädagogischen Alltag auf der Wohngruppe mit Jugendlichen zu gestalten, ist das eine, Diversitätsgerechtigkeit zu schaffen, das ganz andere. Intersektionalität und theoretische Denke da, Vielgestaltigkeit und ganz konkrete Probleme dort; wie macht man das? Der «gelingendere» Alltag ist ein Spagat und kein Zuckerschlecken, wenn Sozialpädagogik auch im 21. Jahrhundert Lebensbefähigung im Sinn hat.
  • Junge Talente im Fussball auch im stationären sozialpädagogischen Kontext passend zu begleiten – auf die Idee muss erstmal einer kommen, um dann Spezifika für genau diese Begleitung und die Zusammenarbeit mit der Familie und dem Umfeld – hier auch geprägt von Vereinen, ja Proficlubs in Zürich gar (!) – festzulegen. Obzwar: Wo bleiben die Frei-Räume für das Kind, den Jugendlichen? Und was tut der findige Pädagoge damit? Wozu?
  • Die Fallgeschichte der kleinen Stefanie. Und die Suche nach der passenden Begleitung des gross gewachsenen Sozialpädagogen. Ein Vorwärtschlingern zwischen Bindung, Trauma, Ablehnung und grosser Nähe. Und eine Begegnung mit des Schwesters Hund. Manchmal zeigt sich die herausragende Grösse des sozialpädagogischen Handwerks im ganz Kleinen. Und berührt ungemein, wenn sie authentisch daherkommt.
  • Zu guter Letzt: Ein Tanz im Kontinuum zwischen Plan und Agilität. Ein Wiedersehen mit alten Freunden: Rogers, Thiersch und Montessori. Und dennoch ein eigenständig konzises Denkgebäu, das sich, mit reichlich Praxis angereichert, spiralförmig über der Geschichte unserer Disziplin aufbaut: Warum Agilität in der Sozialpädagogik unbedingt wieder- und neuentdeckt werden sollte, wo es das schon gab und wie sich solcherlei Denke auf Strukturen und Organisationen jenseits der Betreuten auswirken könnte. Und weshalb man das alles auch anders labeln könnte.

In den drei bzw. vier Jahren des Studiums, Vollzeit oder berufsbegleitend, sind nicht nur Fachpersonen herangereift, es haben sich Persönlichkeiten entwickelt. Der Weg im Diplomjahr ist geprägt von Entwicklungsorientierung, die ihren Niederschlag auch in der letzten Prüfung und deren Form wiederfindet: weil die gewordenen Persönlichkeiten und der Blick auf ihre Entwicklungspotenziale hier Platz finden.

Adieu!

Man braucht euch nicht in die Praxis zu entlassen – ihr kommt von da! Als HF-Absolventinnen werdet ihr nun diese Praxis prägen. Und mit Blick auf die Soziale Arbeit hoffe ich, dass einige von euch die Praxis verwandeln werden – das Zeug dazu hättet ihr! Die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, vom Jugendtreff bis in den Massnahmenvollzug, werden es euch danken. Entlassen tue ich euch mit der bekannten Träne im Auge. Macht’s gut. Und lebt wohl!