Was passiert, wenn ein Bildungszentrum zur Buchbesprechung einlädt? Das wusste am Donnerstag, 8.9.2022 niemand so wirklich. Um 17 Uhr formte sich das kleine, feine Publikum zu einer neugierigen Truppe. Der bereitgestellte Apéro für später wurde gleich zum Programmbegleiter, Gastgeberin Marija Baric lenkte den Fokus von den Chips geschickt auf die beiden Co-Herausgeber und das Buch: Mittels Fragen, gespielt wie Steilpässe, fordernd und klug. Daraus resultierte kurz und knapp eine Fragensammlung, welche der Leserschaft diese Blogs nicht vorenthalten werden soll:

  1. Was ist neu an Entwicklungsorientierter Bildung?
  2. Kommt das nicht zu schnell? Eben noch Kompetenzorientierung, jetzt das?
  3. Wie mache ich den Spagat zwischen Curriculum (Vorgaben) und offeneren Lern-Lehrformen?
  4. Was ist denn anders, Bildung so zu denken oder machen?
  5. Wie geht man mit diesen Freiheiten um?
  6. Ich lass mich gern vom Weg abbringen: Darf ich? Soll ich?

Was da in der folgenden Stunde entstanden ist, würde ich als gemeinsamen Denk- und Lernraum bezeichnen. Eine Mischung aus Buchvorstellung und kollegialer Beratung. Gar nicht so sehr auf Lösungen aus, eher auf Austausch. Gemeinsam laut denken und ja – Entwicklungsorientierte Bildung kritisch beleuchten. Einige Ideen:

  1. Entwicklungsorientierte Bildung, verstanden als gebildet ist, wer sich als Mensch entwickelt, mag in der aktuellen Zeit neu wirken, ist aber alt. Knüpft an an der abendländischen Denktradition, wir werden in der Besprechung fündig beim Renaissance Philosophen Giovanni Pico della Mirandola («Der Mensch als Former seiner selbst»), beim Schulentwickler Hugo Gaudig («Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit»), bei Pestalozzi, Neill, Rogers und Thiersch. Und bei meiner Kindergärtnerin Frau Chiogna. Weil die immer schon so gearbeitet hat.
  2. Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen kommt mir da in den Sinn: Denkarten, Kulturen, Ideen, Kunstepochen und vielleicht auch Paradigmen überlappen sich, fliessende Übergänge oder gleichzeitige Existenz ohne Berührungspunkte, alles denkbar und möglich. Der Wandel oder gar die Verwandlung passiert in langsamen Schritten und ja: in der Bildung können wir aktuell sehr viele Bewegungen ausmachen. Das fordert. Es kommt schnell, sehr schnell. Und doch ist es höchste Zeit.
  3. Den Spagat machen wir wohl immer schon. Da der Lehrplan, dort meine Lernenden. Vielleicht gelingt das Neue, das Andere oder das eigentlich Vertraute in kleinen Fenstern, entwicklungsorientierte Fenstern, die kleine Räume, beinahe experimentell öffnen. Da liesse sich vieles ausprobieren, ohne Risiko.  Und, Achtung: Wer sagt, dass man mit nicht-offenen Lehr-Lernformen ans Ziel kommt? Lehrende kommen so bis zu ihrer letzten Folie, ok. Aber sind seitens der Lernenden damit die Vorgaben erfüllt? Wahrnehmende Lehrformen helfen uns, realistisch zu sehen, was wir – also konkret die Lernenden – an Curriculumsvorgaben tatsächlich erreicht haben, und was noch ansteht.
  4. Das erlebt, wer es tut. Das gemeinsam zu entdecken und sich darüber zu unterhalten, das heisst Erfahrungen zu teilen, wäre mir das Kernanliegen. Hypothese: Wir erleben verstärkt Entwicklung, bei Lernenden und bei uns selbst. Das freut.
  5. Die Frage stellt sich in jeder pädagogischen Situation: Welchen Rahmen setze ich und wie können sich Kinder, Jugendliche, Erwachsene darin bewegen? Vielleicht darf man sogar sagen: Der letzte Sinn von Bildung ist zu lernen, mit Freiheit bewusst, aktiv, verantwortungsvoll umzugehen? Freiheit zu leben, also auch zu üben?
  6. Fernab des Weges liegen spannende Dinge bereit. Zugleich: ein kraftvolles Ziel hilft, Wegoffenheit gut und gemeinsam zu gestalten; gibt Orientierung, egal, wohin man gerade geraten ist.

Herzliche Grüsse aus der HfaB!