Bissfaktor
Als ich noch im aktiven Schuldienst war, habe ich meine Schüler:innen nach dem Abitur immer wieder gefragt, welcher Abitursschnitt wohl herausgekommen wäre, wenn sie sich kontinuierlich ins Zeug gelegt hätten. Wenn sie in den letzten zwei Jahren den richtigen Biss gehabt hätten. Die Antwort war fast immer ähnlich: Breites Grinsen und: «So richtig gelernt habe ich meist nur auf die Klausuren. So richtig kontinuierlich angestrengt habe ich mich selten, wenn ich ganz ehrlich bin. Mein Abizeugnis hätte deshalb natürlich viel besser sein können.» Mir ging es übrigens nie um den Abitursschnitt an sich, eher um die Biss-Analyse, die ja leider fast nirgendwo erhoben wird. Denn es gibt keine Studie weltweit, die einen Zusammenhang zwischen Schulnoten und beruflichem Erfolg zeigt. Und schon gar nicht eine Korrelation zum eigenen Lebenserfolg. Deshalb sollten Schulnoten nie zu hoch bewertet und besser nur als Wegweiser gesehen werden.
Ich selbst habe immer einen Zusammenhang zwischen dem natürlichen oder dem erlernten Biss und den Abitursnoten vermutet und diesen Zusammenhang auch einige Male für einzelne Klassen zeigen können. Ich hatte in meinen 5. Klassen als Klassenlehrer häufig Biss-Noten erstellt – also alle Fachlehrer:innen der Klasse befragt, wie sie den Ich-streng-mich-richtig-an-Faktor meiner Schüler:innen einschätzten. Daraus habe ich dann ein differenziertes Biss-Zeugnis gebastelt und zusammen mit dem normalen Zeugnis herausgegeben. Zur Orientierung gab es dort auch eine anonymisierte Biss-Statistik für die gesamte Klasse. Mittelmäßige Noten und ein magerer Bissfaktor hieß dann in der positiven Erläuterung etwa so: «Du hast noch einen starken Joker im Ärmel. Zieh ihn. Du wirst dich wundern.» Und zum Abitur habe ich diese Bissnoten dann wieder aus der Schublade gezogen. Und dabei gesehen, dass nicht die Fachnoten, sondern die Bissnoten der 5. Klasse eine viel höhere Korrelation zu den Abitursnoten aufwiesen. «Mittelmäßige» Fünftklassschüler:innen mit hohem Bissfaktor standen am Ende oft mit einem Einserabitur auf der Bühne. «Überfliegerfünftklässler:innen» mit kleinem Bissfaktor verließen das Gymnasium aber locker auch mit einem Dreierabitur.
An dieser Biss-Schulung haben wir dann mit unseren kollegialen Teams immer weiter herumgebastelt. Feedback-Hefte dazu entwickelt. Oft sehr erfolgreich damit experimentiert.
School is cool
Schuljahresanfang, da kribbelt es mich noch immer in den Fingern. Weil dem Anfang ein Zauber inne wohnt. Und weil man dort auf große Träume setzen kann. Und auf die Idee, immer vorne auf der Welle zu stehen. Was nicht durch das Starren auf die Noten zu schaffen ist, sondern durch den Blick auf einen Faktor mit der höchsten Effektstärke in der Hattie-Studie: «Selbsteinschätzung der eigenen Lernleistung. Und der seiner Peer-Group.» Meine Vermutung aus der eigenen Erfahrung mit unseren früheren pädagogischen Experimenten:
Man kann seinen Biss-Faktor steigern, indem man sich einer regelmäßigen Selbsteinschätzung unterzieht.
Aber sich selbst einer regelmäßigen Selbsteinschätzung zu unterziehen, dazu benötigt man normalerweise eine starke Begleitung. Außer man ist Biss-Native oder in allerhöchster Not. Also versetzungsgefährdet. Ja bei Versetzungsgefährdeten konnten wir auf der Biss-Ebene wahre Wunder vollbringen. Na ja, in diesem Jahr habe ich mich als Ex-Gymi-Lehrer einmal an ein Heft für Grundschüler:innen und deren Eltern gewagt. school is cool – aber nur vorne auf der Welle heißt es. Und school is cool – vorne auf der Welle stehen lernen das Einstiegsheft für Erstklässler:innen.
Ab zum Mars
Die immer kompliziertere, komplexere VUCA-Welt benötigt dringend möglichst viele junge Menschen, die nicht nur 3 ihrer 18 vorhandenen Raketenstufen im Hirn zünden. Deshalb sollte man neben der «normalen Schule» die Biss-Schulung nicht vernachlässigen. Und bewusst auf das individuelle Raketenstufen-im-Gehirn-zünden setzen. Auf Lernbegleitung mit ganz viel Feedback und auf die Dauerfrage: «Wo stehe ich zur Zeit mit meiner Lernleistung?» – Die Frage mit der Hattie Effektstärke von 1,44. Aber all das sollte bitte immer mit dem Grundgedanken «Druck rausnehmen, Biss aufbauen» geschehen. Stimmt, ich bin Pensionär und Vierfach-Opa, kann hier gut und locker Ideen und kluge Sätze raushauen und mit meinen früheren Erfahrungen um mich werfen. Aber vielleicht lassen sich ja trotzdem ein paar Eltern oder Lehrer:innen anstecken, selbst mit einer eigenen Kanban-Board-Idee am Schulanfang zu experimentieren, den Biss der Kids he-rauszufordern. Hatties Top five im Fokus zu behalten. Und Noten nur als Fingerzeige zu sehen.
Die Lust am Biss zu wecken und damit nebenbei das Selbstbewusstsein steigern.
Selbstbewusstsein ist etwas vom Feinsten, wenn man damit später die Schule verlassen kann, das wissen Sie sicher selbst. Ausprobieren kostet nichts. Ich drücke von der Tribüne aus die Daumen.
P.S: Übrigens, meine Behauptung so ganz nebenbei: Zwischen Biss-Faktor in der Schule und dem berufliche Erfolg und auch dem Lebenserfolg existiert eine Korrelation. Gepaart mit ganz viel Zufall, Glück und der eigenen Erwartungshaltung. Biss-Schulung lohnt sich lebenslang.
Herzliche Grüsse aus der HfaB.
Heinz Bayer alias Otto Kraz
Team Weiterbildung
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